Claas war Weihnachtsmann mit Leib und Seele. Das ganze Jahr über freute er sich, auf strahlende Kinderaugen, auf beleuchtete Tannenbäume und festlich geschmückte Häuser.
Doch ein Weihnachtsfest sollte ihm in besonderer Erinnerung bleiben! Er war zur Bescherung zu einer amerikanischen Familie gekommen, die noch nicht lange in Deutschland lebte. Dort schien alles mehr und bunter zu sein, als es hierzulande üblich war. Das Wohnhaus war größer, der Tannenbaum höher, die Dekoration üppiger. So füllte der mächtige Christbaum gut ein Viertel des überdimensionalen Flures aus. Die Tanne war derart reichhaltig geschmückt mit Kerzen, Kugeln, Sternen, Lametta, Äpfeln und Holzfiguren, dass sie unter ihrer Last zusammen zu brechen drohte. Lichterketten schmückten nicht nur die ausladende geschwungene Treppe ins obere Geschoss, sondern führten auch kreuz und quer unter der Decke der Halle und an den Wänden entlang. Sterne und Weihnachtsfiguren zierten jede freie Stelle.
Claas spähte durch den Türspalt des Kaminzimmers im oberen Stockwerk, wo er auf seinen Auftritt als Santa Claus wartete. Für die Amerikaner hatte er sich etwas Besonderes ausgedacht, denn er wusste, dass sie alles Außergewöhnliche liebten.
Als die Bescherung losging, verbarg er sich in einer großen weihnachtlich verpackten Box am oberen Treppenabsatz. Er wollte in seiner Tätigkeit als Weihnachtsmann mit Pauken und Trompeten aus dem Karton herausspringen – etwa so wie ein leicht bekleidetes Mädchen bei einem Junggesellenabschied aus einer Riesentorte steigt.
Während er in seiner Box kauerte, stellte sich die Familie – Vater, Mutter, drei Kinder im Alter zwischen vier und zwölf, sowie die Großeltern – unten im Flur neben dem Christbaum auf und harrten gespannt der Dinge, die da kommen würden.
Eine Trompete erklang, weitere Instrumente stimmten ein. Alle Augen blickten überrascht nach oben. Claas lachte leise in sich hinein. Der Trick mit dem Kassettenrecorder hatte funktioniert.
Der Karton öffnete sich wie von Geisterhand und ein bärtiger, rot bemäntelter Weihnachtsmann mit einem prall gefüllten Beutel tauchte daraus empor. Entzücktes Staunen. „Ah“ und „Oh“ erklang es von unten, als er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete.
Der Weihnachtsmann freute sich über die glänzenden Kinderaugen und konnte sich gar nicht daran satt sehen, als er den Schritt aus dem Karton tat. Nun war dieser etwas zu dicht an die Treppe herangelangt, so dass sein Fuß keinen sicheren Halt fand. Der zweite Fuß folgte nicht schnell genug, um zu retten, was er noch hätte retten können. Vielmehr zog er den Karton mit sich, als der Weihnachtsmann mitsamt dem gefüllten Beutel die Treppe herunter purzelte. Zum Glück war der Weihnachtsmann gut gepolstert. Er rollte wie eine nicht aufzuhaltende Lawine über die Stufen, hakte in der Biegung der Treppe für einen Moment, doch bevor er sich aufrappeln konnte, ging die Fahrt weiter in die Tiefe.
Am Ende der Stufen bremste die ausladende Tanne den Fall der arg mitgenommenen Gestalt und hüllte diese in ihre stacheligen, aber nach den Treppenstufen doch recht weichen Arme. Allerdings konnte der Baum den Weihnachtsmann nur leicht abfedern, bevor er sich unter dem ins Wanken gekommenen Gewicht seiner überladenen Äste zur Seite neigte. Seiner Größe wegen verfing sich die mit einem gläsernen Engel verzierte Spitze in der Lichterkette neben der Deckenlampe. Diese folgte der Tanne unaufhaltsam in die Tiefe und veranlasste die an den Wänden befestigten Kabel hinter drein zu eilen.
Leises Klirren ertönte, hier und da erlosch eine der elektrischen Kerzen mit einem leisen „Pling“, während aus dem oberen Stockwerk unermüdlich die Bläser um weihnachtliche Stimmung buhlten.
Claas war noch ganz benommen von dem übereifrigen Abgang über die lange Treppe. Während er vorsichtig die Funktionstüchtigkeit seines Verstandes und seiner Glieder prüfte, hörte er plötzlich ein fürchterliches Poltern von der Ecke her. Er blickte hoch. Mit einem Krachen sprang die Tür auf. Eine riesige Dogge stand wie angewurzelt vollkommen verdutzt im Rahmen und beäugte den verwüsteten Raum. Claas konnte den Denkvorgang im großen Kopf des Tieres regelrecht sehen: Hier meine Familie, Chaos in meinem Reich, dem sonst so friedlichen Flur und – ein Fremder!
Die Dogge und der Weihnachtsmann setzten im selben Moment zum Sprung an. Letzterer sprintete – den Beutel mit den Geschenken noch krampfhaft in der Hand haltend – zur Terrassentür, riss sie auf und stürmte in den Garten. In langen Sätzen folgte der Hund mit wütendem Grollen. Claas sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Der verdammte Garten war mit einem hohen Bretterzaum umgeben. Doch mit der nahenden Gefahr im Nacken schaffte er einen kühnen Sprung. Seine Hände klammerten sich an das oberste Brett des Zaunes und er stemmte die Füße gegen die Latten. Beinahe in Sicherheit. Da spürte er den Zug am Beutel in seiner Hand. Er ließ ihn los und merkte erst jetzt, wie dieser ihn behindert hatte. Von seiner Last befreit zog er sich ganz nach oben, setzte sich schwer atmend auf die oberste Latte und blickte nach unten. Kein Hund war zu sehen. Claas schüttelte den Kopf. Ob er bei seinem Treppensturz doch mehr abbekommen hatte? Doch dann sah er wie die große, schwarzbraune Dogge mit dem Geschenke-Beutel in der Schnauze durch die offenstehende Terrassentür im Haus verschwand.
Er überlegte. Noch einmal hineingehen? Nein, lieber nicht. Die ihnen zugedachten Geschenke würden die Amerikaner bekommen – denn nun hatte die Dogge die Bescherung übernommen.
„Weißt du was, Mutti“, stellte Lina leise – doch fast ein wenig entrüstet – fest, „der Weihnachtsmann – der hatte Onkel Erwins Stiefel an!
Octavia Bender